Der PUNKT

Vegan in einer nicht-veganen Welt

„Warum musst du immer so radikal sein? Vegetarisch sein, wäre doch auch genug“, fragt die besorgte Mutter ihre Tochter. Die Tochter stampft mit dem Fuß auf den Boden und schreit: „Weil sich die Welt nie ändert, wenn niemand radikal ist!“

Die Tochter bin ich. Ich habe in meinem Leben schon öfters gehört, ich sei zu radikal oder würde immer krampfhaft versuchen, gegen den Strom zu schwimmen. Das ist tatsächlich die Wahrheit. Ich versuche wirklich, krampfhaft gegen den Strom zu schwimmen. Aber nicht, weil ich mich von allen anderen abheben will, sondern weil ich den Strom scheiße finde. Männer verdienen viel mehr als Frauen, Menschen essen Fleisch, trinken Milch, benutzen für kürzeste Strecken das Flugzeug. Und das scheint so auch okay zu sein. 

Willensstark, dünn, cool

Ich habe vegane Menschen immer schon bewundert. Sie sind willensstark, dünn, cool und setzen sich für eine faire Behandlung aller Lebewesen ein. Seit einem Dreivierteljahr kann ich mich auch zu diesen Menschen zählen. Jetzt bin ich auch willensstark, cool und setze mich für eine faire Behandlung aller Lebewesen ein. Das mit dem Dünn-sein ist nur ein Gerücht. Die meisten Chips- und Nudelsorten sind leider vegan. 

Wie ich in den Veganismus gerutscht bin? Während eines Praktikums in der kleinen Dorfbibliothek, umgeben von hohen Bergen, Speckknödeln und Lederhosen, ist es irgendwie passiert. Ich habe ein Sommerpraktikum in der Dorfbibliothek gemacht und da sich die Menschenmassen bei 30 Grad Celsius im Schatten eher Richtung Freibad und nicht Richtung Bibliothek bewegen, hat sich meine Kund*innenschaft auf maximal eine Person in der Stunde beschränkt. Mir blieb also viel Zeit, in den Büchern zu stöbern.

Nun muss man wissen, dass ich Kochen (und natürlich das zugehörige Essen) liebe. Ich habe also vor allem Kochbücher durchgeblättert – und siehe da: Ich bin auf das Buch „Vegan for Fun“ von Attila Hildmann gestoßen. Nachdem ich ihn gegoogelt hatte und herausgefunden habe, dass er eine Restaurantkritikerin, die sein Lokal nicht so gut fand, über einen Facebook-Post indirekt mit einem Gewehr bedroht hat, fand ich ihn auch nicht mehr so cool, aber die Kochbücher sind schön anzusehen.

Ich dachte mir also, wie spannend es wäre, mal ein bisschen mit Tofu, Mandelmus und Cashewkernen* zu experimentieren und habe mal etwas Veganes gekocht. Der Grundstein war gelegt, die Radikalisierung erfolgte im Internet. Podcasts, Foren, Videos von geheimen Aufnahmen in Milchställen oder auf Schweinefarmen taten ihr Übriges, um mich davon zu überzeugen, dass vegan sein die einzige ethisch korrekte Form des Essens ist. Aber warum sehen nur Veganer*innen das so? Warum wird Fleisch essen, Milch und Eier konsumieren und Leder tragen als okay angesehen?

* Beim Nachmachen beachten: Tofu, Mandelmus und Cashewkerne bitte im Bioladen kaufen und auf regionale Herkunft achten! Sonst wird aus dem Weltverbesserungs-Veganismus schnell ein klimaschädlicher Veganismus.

Karnismus: Was ist das?

Die US-amerikanische Psychologin Melanie Joy hat den Begriff des Karnismus geprägt. Dieses Konzept beschreibt, dass Fleisch essen auf dieser Welt als natürlich, normal und notwendig angesehen wird. Argumente wie: „Das wurde immer schon so gemacht!“ oder „Der Mensch wäre gar nicht so weit entwickelt, wenn er niemals Fleisch gegessen hätte!“ belegen, wie weit Karnismus in der Gesellschaft verbreitet ist.

Auch, dass nur das Fleisch von bestimmten Tieren gegessen wird, ist Teil von Karnismus: Stell dir vor, du isst ein sehr leckeres Gulasch und erfährst plötzlich, dass Hundefleisch darin ist. Würdest du weiter essen? Würdest du dich übergeben? Schweine sind zum Teil intelligenter als Hunde oder Katzen. Wieso essen wir dann Schweinefleisch? Passend dazu auch der Titel von Melanie Joys erstem Buch: Warum wir Hunde lieben, Schweine essen und Kühe anziehen. Erschreckend ist dabei vor allem, wie verfremdet wir von unserem Essen sind. Kindern wird beigebracht, lieb mit Tieren umzugehen und gleichzeitig stopft man ihnen Bärchenwurst in den Schlund. Wer denkt beim Essen vom Osterkitz an das süße kleine Ziegenbaby, das so fröhlich über die Wiese springt?

Moment tiefster Einsamkeit

Als ich mir selbst diese Fragen gestellt habe, habe ich mich gefühlt, als würde ich von der Matrix aufwachen – ebenfalls ein Vergleich, der nicht von mir, sondern von Melanie Joy stammt. Plötzlich konnte ich Menschen nicht mehr verstehen, die sich ernsthaft tote Körper von Tieren in den Mund schieben und das auch noch geil finden. Wer kann ernsthaft Muttermilch von anderen Babytieren klauen und sich in den Kaffee kippen? Wer kann ernsthaft die Haut eines toten Tieres benutzen, um Geld darin aufzubewahren?* Klingt krass, hat sich aber tatsächlich so angefühlt.

Diese plötzliche Aggression, die ich Nicht-Veganer*innen gegenüber empfunden habe, hat mich selbst überrascht. Natürlich wollte ich dann alle auf meine Seite ziehen und dazu bringen, die Welt gleich wie ich zu sehen. Das hat vor allem eines gebracht: Streit. Aus dem Streit mit Eltern und Freund wurde Frustration und ich habe mich unglaublich unverstanden und einsam gefühlt. Und was macht man in Momenten tiefster Einsamkeit? Genau: Ein Buch lesen, und zwar Beyond Beliefs von Melanie Joy, das Abhilfe bei der oft misslingenden Kommunikation zwischen Veganen und Nicht-veganen Menschen schaffen will. 

 * Früher wurde Leder als Beiprodukt von Fleisch angesehen, heutzutage gibt es allerdings eine ganze Lederindustrie, die Kühe nur für die Lederproduktion züchtet. Somit kann Leder zumindest in vielen Fällen nicht mehr als Beiprodukt bezeichnet werden.

Secondary PTSD

Vor allem eine Erklärung für die misslingende Kommunikation aus diesem Buch ist mir im Kopf hängen geblieben: „Secondary Post Traumatic Stress Disorder“ (Secondary PTSD). Beim regulären PTSD haben Menschen schreckliche Dinge erlebt und werden dann durch sogenannte „Trigger“ daran erinnert und erleben gefühlsmäßig das Trauma nochmal. Beim Secondary PTSD allerdings haben die Personen das Leid nicht unmittelbar am eigenen Körper/an der eigenen Psyche erlebt, sondern anderes Leid gesehen. Dann kann ein Steak auf dem Teller der liebsten Person ein Trigger sein, der vor allem Aggression und Traurigkeit bei den Betroffenen auslöst.

Diskutieren hilft dann nichts mehr, das endet meistens in gegenseitigen Beleidigungen, Streit und Verletzungen, die unter Umständen lange zum Verheilen brauchen. Vor allem ist also wichtig, sich in die andere Person hinein zu fühlen, Trigger zu erkennen und deutlich zu formulieren: „Ich fühle mich getriggert und möchte jetzt nicht über dieses Thema diskutieren.“ Freilich soll das keine Ausrede sein, sich Gegenargumenten zu stellen und konstruktive Diskussionen zu führen. Manchmal führen diese Diskussionen aber zu nichts, weil sich Menschen dann nur gegenseitig triggern und die Verletzungen immer schlimmer werden.

Wie reagiere ich jetzt aber am besten, wenn ich mich getriggert fühle? Und wie reagieren die Menschen im Umfeld einer Person, die sich augenscheinlich nicht wohlfühlt? Am besten ist zu fragen, wie man helfen kann. In meinem Fall bitte umarmen und mir ins Ohr flüstern, wie schrecklich gemein die Menschheit ist, dass ich nicht alle Lebewesen retten kann und dass doch alles gut wird. Wichtig ist der Faktor der Sicherheit: Ich bin hier sicher und die Menschen und mich herum wollen mir nichts Böses.

Weglaufen, angreifen, totstellen

Ich habe eine ganze Weile dafür gebraucht, zu verstehen, dass sich auch Nicht-Veganer*innen getriggert fühlen können. Wenn ich meinen Eltern erzähle, wie schrecklich die Schweinehaltung ist, während sie gerade Honigmelone mit Rohschinken verzehren, müssen sie sich aus ihrer Position heraus verteidigen. Und unser Steinzeitgehirn flutet dann den Körper mit Adrenalin, was drei Optionen aufmacht: Weglaufen, angreifen, totstellen. Mit einer dieser drei Optionen als Ausgangsposition kann keine konstruktive Diskussion entstehen.

Missionieren bringt also gar nichts (hat geschichtlich auch noch nie viel gebracht, daran hätte mich vielleicht in meinen veganen Missionierungsversuchen orientieren sollen – ich bin doch keine Kreuzritterin!). Was allerdings etwas bringt, ist miteinander zu reden und versuchen, sich gegenseitig zu verstehen. Denn auch Menschen sind Tiere und haben Liebe verdient. Ebenso wie alle anderen Tiere zumindest verdient haben, respektiert und nicht als Ware oder Produkt diffamiert zu werden. 

Tipps für Interessierte

YouTube: 

  • Pia Kraftfutter
  • Vegan ist ungesund
  • Niko Rittenau

Bücher:

  • Warum wir Hunde lieben, Schweine essen und Kühe tragen von Melanie Joy
  • Beyond Beliefs von Melanie Joy
  • Tiere Essen von Jonathan Safran Foer

Filme:

  • Dominion
  • Forks over Knives
  • Earthlings
  • Cowspiracy
  • Hope for all
Text: Sophia Reiterer
Foto: Pixabay / The 5th
Dieser Artikel ist im PUNKT. 01/19 erschienen.