Umstrukturierung

Hallo Echo. Hallo Solidarität?

Solidarität. Ein Begriff, groß, mysteriös und unantastbar wie ein Berg. Nicht besonders stabil, eher brüchiges Gestein, Kalkstein. Mächtig, schön und stolz, unter Umständen gefährlich.

Text: Sophia Reiterer

Kleine Felsbröckchen, die sich mit der Zeit am Fuß des Bergs gesammelt haben: Assoziationen, die der Begriff auslöst. Du kannst in Richtung Berg gehen, du kannst ihn auch erstmal zu lesen versuchen. Nach Solidarität fragen, ist sich dem Berg zu nähern. Solidarität verstehen, ist den Berg zu erkunden. 

Bettina Bussmann, assoziierte Professorin am Fachbereich Philosophie an der Kultur- und Geisteswissenschaftlichen Fakultät der Paris Lodron Universität Salzburg, sieht Solidarität philosophisch als „eine emotionale, eine rationale und eine Handlungskomponente, die bestenfalls zusammenfallen“. Sie geht von einer Gemeinschaft aus, in der ein Teil der darin lebenden Menschen „aufgrund kontingenter und ungerechter Lebensbedingungen ein weniger freies, selbstbestimmtes, abgesichertes oder glückliches Leben führen kann“. Solidarität beschreibt dann zum einen das Mitgefühl, das für diese Menschen aufgebracht wird. Zum anderen sollen laut Bussmann alle Menschen auf einer rationalen Ebene verstehen, dass ebenjene Menschen „von denjenigen unterstützt werden, die die Mittel dazu haben, diese Situation bis zu einem bestimmten Niveau zu verbessern“. Die Handlungskomponente beinhaltet schließlich, dass eine Gemeinschaft aufgrund der emotionalen und rationalen Beweggründe ins Tun kommt und die Situation entsprechend ändert. 

Du siehst den Berg, kartografiert und analysiert. Gar nicht so groß, mysteriös und unantastbar wie gedacht. Theoretisch einfach ein Sedimentgestein, das vor allem aus Calciumcarbonat in Form der Mineralien Calcit und Aragonit besteht. Ein Calciumcarbonatblock mit Wald, Wegen, Felsplatten, Geröll. 

Der Altertumswissenschaftler Gottfried Eugen Kreuz nimmt das Wort auseinander: „Wer dem Begriff in einem Lateinwörterbuch nachspüren möchte, wird enttäuscht sein, dass er nur Begriffe wie solidus ‚kompakt, vollständig‘ oder soliditas ‚Dichte, Festigkeit‘ findet, also Begriffe, die mit Vorstellungen von gemeinschaftskonformem Verhalten oder Hilfsbereitschaft innerhalb einer Gruppe – also ungefähr dem, das landläufig unter ‚Solidarität‘ verstanden wird – nur in vagem Zusammenhang zu stehen scheinen.“ Die Herleitung gelingt aber trotzdem: zum einen zivil und zum anderen militärisch. Obligatio in solidum beschreibt das Phänomen im antiken römischen Recht, dass eine Einzelperson für die Schuld einer gesamten Gesellschaft einstehen muss – zur Not. Solidum, die gesellschaftliche Gesamtbringschuld, für die jedes Mitglied ebenjener verantwortlich ist. Legen sich also neun von zehn Mitgliedern auf die faule Haut, muss die zehnte Person die gesamte Schuld erbringen. Militärisch lässt sich der Begriff von der Goldmünze herleiten, mit der Söldner im vierten Jahrhundert nach Christus entlohnt wurden. Solidus – die Münze, Solidii – die Söldner oder Soldaten, Zusammenhalt – Tugend einer militärischen Einheit. 

Du packst Rucksack und Mut zusammen und näherst dich. Nach Solidarität fragen, ist sich dem Berg zu nähern. Ruf nach Hilfe und schrei es an die plattige Kalkwand. Kommt ein Echo zurück? Hallo Echo. Hallo olidarität. Schrei lauter und schrei im Winter. Du löst eine Lawine aus. Oder du triffst auf klirrende Stille. Ein gefrorener Bergsee, versteckt in einer Mulde, in dem sich klitzekleine Lebewesen und Organismen tummeln, Pläne schmieden und keinen Mucks von sich geben. Hallo Solidarität. Hallo Stille. Wo stehst du, wenn du schreist? Schrei aus einem anderen Winkel und kein Echo kommt zurück. Am Fuß des Bergs manövrierst du dich durch das Geröll. Geröll – die kleinen Felsbrocken, die Assoziationen mit dieser Solidarität. Winter wie Sommer, das Geröll ist da, lose wie eh und je, und rührt sich nicht. 

Der Solidaritätsbegriff läuft Gefahr, selbst Ausschlüsse zu erwirken, weil er von fixen Identitätskategorien ausgeht. Sozialwissenschaftlich betrachtet kann Solidarität als „ein zentrales normatives Konzept der Frauen- und Arbeiter*innenbewegung und dessen Konstitutionsbedingungen Gegenstand kontroverser Debatten“ definiert werden. So steht die Erklärung in einem gemeinschaftlichen Call for Papers der ÖGS-Sektion Feministische Theorie und Geschlechterforschung, der DGS-Sektion Feministische Theorie und Geschlechterforschung und dem SGS-Komitee Geschlechterforschung im Rahmen des Soziologiekongresses 2021, der von 23. bis 25. August 2021 an der Wirtschaftsuniversität Wien stattfinden soll. „Unbestritten ist, dass Solidarität gemeinschaftliches Handeln ermöglicht und damit eine zentrale Grundlage darstellt, um Machtverhältnisse und gesellschaftliche Ungleichheiten zu hinterfragen und zu verändern. Als analytisches Konzept kann der Begriff der Solidarität(en) den Blick auf jene Praktiken freilegen, die Individuen miteinander verbinden und sie zu kollektiver Handlung befähigen.“ 

Aus diesen Felsbröckchen, aus diesen losen Assoziationen lassen sich wunderbare Ziegelsteine bauen. Nicht so schlimm, wenn ein, zwei Steinchen herausbrechen. Unschön, wandelbar und funktional. Sehr ungefährlich und vielseitig einsetzbar. Unmysteriös, größenverstellbar und handlich. Nimm dir die Stücke, die dir gefallen! Ein Klotz Solidarität mit original Gestein aus dem Berg zum Angebotspreis. 

An der Uni wird zurzeit munter herumstrukturiert, Fachbereiche werden zusammengelegt, neue Fakultäten eröffnet. Echte Solidarität bedeutet, Zusammenhalt zu zeigen, Ungleichheiten nicht hinzunehmen und dagegen vorzugehen. Als kollektive*r Akteur*in aufzutreten erfordert Mut, ist aber vor allem in Krisenzeiten (metaphorisch: im Winter) notwendig. Sich in einer solchen Situation als überprivilegierte*r Akteur*in nicht zu äußern, bedeutet, den Status Quo zu akzeptieren. Wenn Pläne vorgelegt werden, ein kurzes Zeitfenster für Feedback offen ist und keine Meinung abgegeben wird, steht das für eine schweigende Zustimmung. Keine Änderungswünsche fürs Protokoll? – Damit einstimmig angenommen. In Krisenzeiten ist es unmöglich, nichts zu machen und sich treiben zu lassen. Eine Positionierung ist erforderlich. Einige befürworten die Pläne ganz offen, andere freuen sich im Stillen, weil sie in der Strukturreform das größte Potenzial in der Erfüllung ihrer eigenen Wünsche und Träume sehen. Die anderen, für sie werden weniger wichtig erscheinende Teile des Plans entweder als Randnotiz nicht wahr- oder eben stillschweigend hingenommen. Solidarität bedeutet aber, eigene Interessen zurückzustecken, sich für den*die weniger Privilegierte*n einzusetzen und zur Not etwas zu verlieren, das man hätte behalten können, hätte man doch bloß die Klappe gehalten (zum Beispiel eine Machtposition). Der Mensch ist und bleibt, überspitzt gesagt, ein egoistisches und gieriges Wesen. Die Führungsebene weiß diesen dunklen Charakterzug der Menschheit auszunutzen. Wieso sollten sich auch diejenigen Leute mit Schwächeren solidarisieren, die nach der Umstrukturierung respektive der Strukturreform besser dastehen als zuvor? Deren Fachbereiche hoch dotierte Förderungen versprochen werden? Mit geschickter Hand spielen Führungsebenen die „Untergebenen“ gegeneinander aus, beeinflussen ihr Handeln. Diejenigen, die die Solidarität brauchen würden, schreien, kämpfen – und bleiben ungehört. Allenfalls werden ihre Bedenken abgenickt. 

Ruf nach Hilfe und schrei es an die Wand aus den zusammenbetonierten Ziegeln. Sie schluckt deine Schreie einfach. Nicht einmal die Chance auf ein Gehörtwerden. Und wo stehst du? Es ist Winter, eine karge Jahreszeit. Schrei erstmal lauter und schrei erstmal im Winter. Lawine oder Stille. Selbst wenn die Solidarität eine echte ist, ist die Chance gering, ein Echo zu erhalten. Angebots-Solidarität, gebündelte Assoziationen ohne Kern, gebunden durch Betonmische schluckt Hilferufe und gibt sich supertoll. 

Eine tiefgreifende geophysische Analyse des Solidaritätsgesteins an der Universität Salzburg im Jahr 2020 konnte leider keinen Aufschluss darüber geben, ob es sich hierbei um Elemente aus den zusammenbetonierten Ziegelsteinen oder um Elemente vom Kalksteinberg handelt. Segmente des Steins zeigten unter mikroskopischer Analyse keine Interaktion mit anderen Elementen. Es bleibt zu vermuten, dass die Solidarität an der Uni eher einem Ziegelstein als einem stolzen Kalkfelsen gleicht. Romanistik, Slawistik, Linguistik, Germanistik – sie rufen und hoffen auf ein Echo. Sie haben es aus unterschiedlichen Winkeln versucht, in unterschiedlichen Jahreszeiten (wörtlich und metaphorisch). Lawine haben sie keine ausgelöst, ein gefrorener Bergsee war nicht in Sicht. Eher wurden ihre Schreie vom Gestein verschluckt. Vom Gestein, das nach Außen gerne so tut, als wäre es solidarisch, in Wahrheit aber nur aus lose aneinandergeklebten Assoziationen besteht. Nicht so schlimm, wenn ein, zwei Steinchen herausbrechen – die Wirkung nach außen bleibt stabil, die Handlungsinitiative nach innen bleibt aus. 

Hallo Echo. Stille. 

Titelbild: Shutterstock / Andrea Schernthaner
Dieser Artikel ist im PUNKT. 02/20 erschienen.